Ist Minimalismus nur etwas für Gutverdiener und Reiche?

eine Frau hält zwei goldfarbene Bitcoin-Münzen vor ihre Augen
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Ist Minimalismus nur etwas für Reiche?

Diese Frage taucht immer mal wieder auf. Ich persönlich denke, dass wer ausreichend finanzielle Reserven bzw. ein entsprechendes Einkommen hat, natürlich sehr viel entspannter Dinge loslassen kann, als jemand, bei dem das Geld sehr knapp ist. Und wer kein Geld hat, um sich die nötigsten Dinge zu kaufen, ist nicht Minimalist, sondern erstmal einfach nur arm.

All den Kram behalten?

Was ich aber überlege ist folgendes: Beinhaltet die Frage, ob Minimalismus nur etwas für Gutverdiener ist, nicht auch ein wenig, dass Minimalismus irgendwie dekadent, abgehoben oder sonstwie merkwürdig ist? Und ist eine solche Sichtweise dann nicht eine prima Begründung, warum man deshalb dann doch lieber all seinen ganzen Kram behält, selbst wenn er die Wohnung verstopft und man ihn überhaupt nicht benötigt? Quasi als Abgrenzung zur abgehobenen Welt des Minimalismus?

Um mich nicht falsch zu verstehen:
Wer mit seinen eher vielen Dingen glücklich und zufrieden ist, wer gerne shoppt und volle Schränke liebt ohne, dass das eigene Konto in bedrohliche Schieflage gerät, möge dies so belassen. Minimalismus ist kein Allheilmittel, Minimalismus ist keine Religion, Minimalismus ist freiwillig und mit Sicherheit nicht für jeden etwas. Minimalismus allein macht auch Niemanden besser oder schlechter.

Minimalismus zweckentfremdet

Und: Ja, gelegentlich stört es mich, wenn Minimalismus zweckentfremdet wird. Minimalismus ist derzeit Trend, gerät gelegentlich zum Hype und in Internet und Sozialen Netzwerken kann man mit diesem Begriff durchaus einfach auch viel Aufmerksamkeit und jede Menge Klicks bekommen: Statt Kram sammeln, Klicks sammeln…

Verteilungsgerechtigkeit

Wir leben in einer von Konsumangeboten überfüllten Gesellschaft. Die Frage, ob Minimalismus nur etwas für Gutverdiener ist, stellt sich für mich nicht, ich selbst habe ohnehin nie zu den sog. Gutverdienern gehört. Durch meinen Beruf bedingt weiß ich aber auch, wieviel Menschen für sehr viel weniger Geld, sehr viel mehr arbeiten müssen, als ich.

Indem wir weiter und weiter kaufen, konsumieren, Dinge anhäufen, dem neuesten technischen Schnickschnack hinterherlaufen, geht es Niemanden, der nur wenig Geld zur Verfügung hat, auch nur ein winziges Stückchen besser. Im Gegenteil. All die Menschen zu sehen, die genügend Geld haben, sich die neueste Mode oder das neueste Smartphone zu kaufen, die sich den schicken Urlaub, Restaurant- oder Kinobesuch und vieles mehr leisten können, kann für die, die wenig haben, unerträglich werden.

Als Sozialpädagogin habe ich es hautnah und jahrelang mitbekommen, wie die Schere zwischen denen, die sehr gut und denen, die sehr schlecht verdienen, erschreckend groß geworden ist. Dass mitunter selbst sehr fleißige und engagierte Menschen mit Ausbildung und beruflicher Erfahrung in unserer Gesellschaft kaum von dem leben können, was sie verdienen, ist ein Skandal. Ein bisschen mehr Verteilungsgerechtigkeit, ein achtsamerer Umgang miteinander, fände ich für uns alle sehr viel hilfreicher, als Überlegungen, ob Minimalismus nur etwas für Gutverdiener und Reiche ist.

Es gibt übrigens auch die, die der Meinung sind, Minimalisten seien deshalb Minimalisten, weil sie arm sind. Ich denke, letztlich ist die Höhe des Einkommens nicht vorrangig ausschlaggebend, das macht es nur bequemer oder unbequemer. Minimalismus ist einfach ein anderer Lebensstil.

 

 

9 thoughts on “Ist Minimalismus nur etwas für Gutverdiener und Reiche?

  1. Hallo, durch google bin ich auf diesen doch schon älteren Artikel und diesen interessanten Blog gestoßen. An dieser Stelle großes Kompliment – mir gefällt dein Zugang zum Minimalismus ganz besonders!
    Tatsächlich erlebe ich die Themen Achtsamkeit, Mediation, Minimalismus, etc. in erster Linie als Interessen von privilegierten Menschen (teilweise auch sehr elitären Kreisen). Auch in der Auseinandersetzung mit diesen Themen ist doch immer wieder zu merken, dass viele Menschen dieser Bewegung in einer vergleichsweise komfortablen Lebenssituation sind und mehr Sicherheit haben. Mich selbst hat eine chronische Erkrankung dazu gebracht vieles zu hinterfragen, ich komme schlichtweg mit dem Stress, der Beschleunigung und den nie endenden to-do-Listen des modernen Lebens nicht mehr zurecht. Aktuell arbeite ich 25 Stunden pro Woche und verdiene rund 1.100 ,- und frage mich, ob ich es mir gestatten darf so zu leben. Wie sorge ich fürs Alter vor oder für eine früher eintretende Zeit, in der ich nicht mehr arbeiten kann? Immer wieder fehlt jetzt schon das Geld für zusätzliche ärztliche Behandlungen. Ist das Minimalismus oder ist das einfach Armut? Oft hadere ich mit mir, dass ich mehr arbeiten müsste. Andererseits ist mir die Stressbelastung an meinem aktuellen Arbeitsplatz in der Regel jetzt schon zu viel. Wir leben in einer merkwürdigen Zeit und perfekte Lösungen wird es nicht geben. Jeder muss einen individuell passenden Weg finden. Doch wenn ich mitbekomme, wie groß das Einkommengefälle zu anderen ist, frage ich mich regelmäßig, ob ich die richtigen Entscheidungen in meinem Leben treffe. Und auch der immer wieder auftretende Gegenwind, das infrage gestellt werden von anderen, der Appell an gesellschaftliche Verantwortung nagt an mir.
    Liebe Gabi, kennst du solche Erfahrungen und wenn ja, wie begegnest du ihnen? Und was mich auch interessieren würde, kennst du Möglichkeiten „minimalistisch“ fürs Alter vorzusorgen?
    Liebe Grüße,
    Hannah

    1. Hallo Hanna, fast hätte ich gesagt: Willkommen im Club. Als Sozialpädagogin gehöre ich auch nicht gerade zu den Gutverdienern und habe schrittweise auf eine Halbtagsstelle reduziert. Die ideale Vorsorgeform kenne ich auch nicht, aber ich merke, dass es wirklich eine enorme Entlastung ist, die Fixkosten möglichst zu reduzieren. Das ist ein längerer Prozess.
      Bei mir: Umzug in die Innenstadt in eine Genossenschaftswohnung. Damit fällt die Notwendigkeit eines Autos weg – spart endlos Geld. Und Genossenschaftswohnungen sind in der Regel günstiger, als „normale“ Wohnungen – ich wohne allerdings auch im Ruhrgebiet und nicht in einer teuren Ecke wie München, Hamburg, Köln und Co.. Ich habe ein Prepaidhandy, telefoniere vorrangig Zuhause über Signal, Telegram und Co., da reichen mir aktuell 2,99€ für 750MB Datenvolumen plus ca. 3 – 7 Telefoneinheiten zu je 9 Cent in 4 Wochen. WLAN habe ich einen Tarif für 11,99€ usw.. Das schafft Platz für Rücklagen und evtl. höhere Gesundheitskosten. Mein Einkommen ist rd.100€ höher als deins, ich lebe von ca. 950€ recht komfortabel. Wenns eng würde könnte ich auch gut noch 100€ reduzieren, 250€ gehen in die regelmäßige Rücklage. Es gibt zwar keine Zinsen derzeit, aber auf Aktien, ETF habe ich einfach immer noch keine Lust. Und besser eine Rücklage ohne Zinsen als keine Rücklage.

      Die großen Einkommensgefälle stören mich auch – und zwar massiv. Es war ja aktuell mehr als auffällig, dass es ausgerechnet die sog. systemrelevanten Berufe sind, die ein eher kleines Gehaltsgefüge haben. Aber ich denke, man kann auch mit einem eher geringen Einkommen eine ganze Menge machen und gestalten. Minimalismus ist ja letztlich nur die Beschränkung aufs Wesentliche. Das ist immer gut, egal mit welcher Einkommenshöhe.

  2. Für mich eindeutig ja. Es klingt paradox aber man muss es sich leisten können, Dinge zu entsorgen, zu verschenken oder unter Preis weiter zu verkaufen, Bio-Produkte zu mampfen und statt zu arbeiten auf Reisen zu gehen. Wenn man genug Geld hat um sich jederzeit alles kaufen zu können was man braucht, dann kann die Wohnung auch aussehen wie ein leerer Möbelkatalog. Dann braucht man keine Kaffeemaschine, weil man seinen Kaffe im Coffe-Shop schlürft und auch keinen Herd und keinen Kühlschrank weil man essen geht oder sich das Essen liefern lässt. Mit dem Gehalt eines Programmierers oder Lokführers währe es auch kein Problem sich dauerhaft in einem Hotel oder einer Pension einzumieten und „minimalistisch“ aus dem Koffer zu leben. Alles nur eine Frage des Geldes. Für einen Mindestlöhner, eine Alleinerziehende oder einen Sozialleistungsempfänger stellt sich die Frage des Minimalisierens doch gar nicht erst. Diese Menschen leben an der Armutsgrenze und können sich unnötigen Konsum gar nicht leisten.

    1. Hallo Neffe, der Minimalismus, den du beschreibst – ganz klar, der nervt. Allerdings ist das wirklich nur ein kleiner Teil und genau der, der mit mehr oder weniger Getöse gerne in der Öffentlichkeit auftaucht.

      Die wenigsten minimalistisch lebenden Menschen sind als sog. digitale Nomaden unterwegs, sondern leben in ganz normalen Wohnungen, gehen ganz normal arbeiten und das Gehaltsgefüge ist extrem unterschiedlich. Ich lebe beispielsweise vom Halbtagsgehalt einer Sozialpädagogin und finanziere davon komplett alles, habe eine normale Wohnung, normale Möbel, einen Kühlschrank, koche selbst, usw.. Von HartzIV bis Sehr-Gut-Verdiener ist an minimalistisch lebenden Menschen alles dabei. Nicht alle Minimalisten essen bio (wobei manche Sachen sind sogar günstiger, als konventionell – es lebe das Haushaltsbuch!), nicht alle reisen (ich bin z.B. noch nie im Flugzeug geflogen), nicht alle sind vegan (ich auch nicht). Meistens bekommt man diese Varianten aber nicht übers Internet mit (wo man bekanntlich mit aktuellen Themen auch wunderbar auf sich aufmerksam machen kann), sondern eher über die Minimalismus-Stammtische und in persönlichen Kontakten.

      Aber da ich seit Jahrzehnten in der Sozialen Arbeit beruflich tätig bin, weiß ich, was du meinst. Ich weiß nicht, wieviele Hartz-IV und Wohngeldanträge ich in meinem Leben schon ausgefüllt habe, es sind endlose. Dann kommen noch die Familien dazu, die knapp über der Grenze jeglicher finanzieller Unterstützung leben und für ihre Kinder alles selbst bezahlen müssen: Klassenfahrten, Mittagessen in der Schule, Bücher, Hefte, Stifte, usw. usw. usw. usw. – Da ist es oft enger, als bei manchen ALG2-Familien. Da gibt es viele Dramen und natürlich ist da, wo das Geld knapp ist, wenig Möglichkeit irgendetwas zu reduzieren. Allerdings sind auch dort die Unterschiede extrem und die Art, wie mit dem wenigen Geld umgegangen wird, ist extrem unterschiedlich. Manche Menschen sind sehr überlegt im Umgang mit Geld, andere nicht. Ich habe auch schon sehr vielen Menschen mit sehr wenig Geld Tipps gegeben, wie es zumindestens etwas leichter gehen kann – die einen setzen etwas um und es geht ihnen zumindestens etwas besser. Andere setzen nichts um und die Situation ist prekär.

      Hat man wenig Geld, ist es sogar empfehlenswert minimalistisch zu leben – aber nicht im Sinne von wegwerfen, entsorgen, entrümpeln und einem bequemen Lifestyle, sondern im Sinne des bewussten Konsumierens und der Konzentration auf die wirklich wichtigen Dinge.

  3. Es gibt Leute, die schreiben sich den Minimalismus auf die Fahnen, damit sie wieder Platz im Kleiderschrank für neues Zeug haben.
    Achtsamkeit beim Geldausgeben ist mit Sicherheit der bessere Weg. Meine Oma hat das noch lernen müssen.
    LG
    Sabienes

    1. Achtsamkeit beim Geldausgeben war für mich auch der erste Schritt Richtung Minimalismus. Allen möglichen Spontanwünschen nachzugeben, verhindert aus meiner Sicht den Zugang zu Bedürfnissen, die viel grundlegender und wichtiger sind.

  4. Liebe Gabi,
    wenn man Minimalismus definiert als nur haben, was man wirklich braucht und/oder einen glücklich macht (und das nicht übervolle Schränke sind), dann ist die Antwort auf die Überschrift: nein. Kann ich auch aus eigener Erfahrung sagen.
    Ich hab auch nie viel Geld gehabt und über meine Verhältnisse gekauft. Bis mich das viele Zeug, der unglückliche Blick aufs Konto und die Zeitverschwendung beim Kaufen und sich Gedanken darüber machen, wann ich das alles benutzen und pflegen soll, so unglücklich machte, dass ich merkte, weniger macht mich glücklich.
    Allerdings sollte man bei echter Armut genau überlegen, was man behält, weil man es nicht mal eben neu kaufen kann, wenn man es doch mal braucht. Und das muss nicht in Horten ausarten. Erfahrung, Kreativität und ein unterstützendes Umfeld helfen.
    Liebe Grüße,
    Aeris

    1. Mehr Zeug zu kaufen, als man sich leisten kann, scheint ja auch irgendwie ein vom Einkommen unabhängiges Phänomen zu sein. Dafür gibt es ja genügend Beispiele in der Öffentlichkeit. In der Tat ist die Kunst, das richtige Maß zu finden, gerade bei niedrigem Einkommen besonders wichtig. Ich hätte sonst nie nach jahrelanger Berufstätigkeit nochmal studieren können. Ich kenne auch durchaus viele Menschen, die sich beruflich nicht verändert haben, weil sie selbst vorübergehend nicht auf Auto, Urlaube etc. verzichten wollten.

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