Grenzen erkennen und überwinden

Manchmal ist das, was wir so üblicherweise als „normal“ bezeichnen, so gar nicht normal. Und wenn es gar zu einer Art „Normalitäts-Schablone“ gerät, wird es Zeit, diese Begrenzungen zu überwinden. Ich lasse mal all die Normalitäts-Definitionen und  -diskussionen beiseite, konzentriere mich auf den ganz gewöhnlichen Alltag und greife mal eins meiner ebenfalls ganz gewöhnlichen Erlebnisse heraus: 

„… Dann ist es auch egal…“

Ich war auf dem Weg zu einer MBSR-Übungsgruppe, als ich die Treppe vom Bahnsteig zur U-Bahn hinunter ging und mir ganz spontan und wohlgelaunt durch den Kopf ging: „Ok, dann bin ich jetzt eben alt. Dann ist es auch egal.“

Verdutztes Innehalten.

Mooooment!

So alt bin ich doch noch gar nicht. Ok, 56 Jahre. Aber nicht 65, nicht 76 und nicht 82. Aber irgendwas fühlte sich plötzlich anders an. Doch was überhaupt? Und was bedeutet denn für mich „egal?“ Und warum fühlt sich das dann auch noch gut an?

„Normalitäts-Schablonen“

Ich nutzte die anschließenden Übungen der MBSR-Achtsamkeitsgruppe um hinzuspüren, wie es mir geht, hier und jetzt und von Moment zu Moment. Diese einzelnen Momente sind häufig besondere Herausforderungen, aber sie sind auch der Schlüssel zur Lösung.

Aufgrund einiger körperlicher (orthopädischer) Einschränkungen habe ich deutlich mehr Schwierigkeiten zu bewältigen, als die meisten anderen TeilnehmerInnen, manches geht gar nicht. Die rechte Hüfte ist deutlich unbeweglicher als die linke. Fußfehlstellungen machen etwas längeres beschwerdefreies Stehen nahezu unmöglich, ein deformierter Lendenwirbel und überdehnbare Gelenke machen Vorsichtsmaßnahmen nötig. Jahre und Jahrzehnte habe ich mich damit gestresst, mich damit herum gequält und bis zum Umfallen geübt. Ich wollte doch irgendwie nur mal dahin kommen, „normal“ mitmachen zu können. Es ging aber nicht, zumindestens nie annähernd so gut, wie die meisten anderen TeilnehmerInnen und dies nicht nur in MBSR-Gruppen, sondern auch in den diversen Gymnastik-, Fitness-, Physiotherapie- und weiß-ich-was-Gruppen.

Die letzten Wochen hat mich dies sehr beschäftigt. Und natürlich: Mit 20 oder 30 Jahren hatte ich auch diese Probleme, aber da konnte ich sie noch besser „wegstecken“ und  mich mit der Illusion aufrecht halten, dass ich einfach nur fleißig üben muss, damit es dann besser wird. Und klar, spüre ich nun mit 56 Jahren, dass darüber hinwegsehen oder üben, üben, üben eben auch nicht der Weisheit letzter Schluss ist. Aber genau da liegt auch die Chance.

Grenzen erkennen

Was nicht „normal“ ist, muss auch nicht „normal“ sein. Genau das ist dann auch dieses „Dann-ist-es-auch-egal-Gefühl“, welches mich so wohltuend auf dem Weg zur U-Bahn durchströmte. Grenzen als Grenzen erkennen und  auch einfach mal zu akzeptieren, befreit. Es befreit von all dem Druck des „Normal-sein-Wollens.“

Grenzen überwinden

Es befreit auch, Grenzen an den richtigen Stellen einfach auch mal zu überwinden. Bei mir sind es beispielsweise die Grenzen der üblichen Meditations- und MBSR-Übungen. Mir reichen sie so nicht. Deshalb erweitere ich sie inzwischen, variiere, probiere und fühle hin, wie es mir geht, was ich brauche, was ich evtl. auch anders brauche, als die Menschen um mich herum.

All die vielen unpassenden „Normalitäts-Schablonen“ benötigen viel zu viel Energie. Nicht nur in MBSR und Meditation, sondern auch in so vielen anderen Bereichen: So scheint es heute fast „normal“, bis zum Umfallen zu konsumieren. Shoppen, bis der Arzt kommt. Ich will es aber nicht. Deshalb begrenze ich sowas und bin da gerne „unnormal“ . Ich gönne jedem seine und ihre Wohnungsdeko wirklich, ehrlich und von ganzem Herzen. Ich kann mich sogar daran erfreuen – bei Anderen! Bei mir will ich diese Deko nicht. Tannen gehören für mich in die Natur und nicht in den Christbaumständer. Den Kleiderschrank zu entrümpeln ist für mich auch kein Minimalismus, das ist nur das notwendige Übel auf dem Weg dahin.

Achtsamkeit und Minimalismus ist, wenn ich die Begrenztheiten des Zuviels überwinde und genau hinspüre, was ich wirklich brauche. Achtsamkeit und Minimalismus ist, wenn Raum zum Atmen da ist: Begegnung statt Begrenzung, Miteinander statt Gegeneinander, fürsorglich statt missgünstig. Es gibt lebenswerteres, als sich mit „Normalitäts-Schablonen“ und deren Begrenzungen aufzuhalten – genau das ist für mich Achsamkeit und genau das ist für mich auch Minimalismus.

11 thoughts on “Grenzen erkennen und überwinden

  1. Noch etwas zum Thema Normalitätsschablonen: Ich erhalte immer wieder sehr viel Gegenwind, weil mein Leben nicht dem Schema F entspricht. Mir wäre es mehr als recht, wenn der Minimalismus und das (Digitale) Nomadenleben und überhaupt Alternativwohnformen mehr Mainstream werden, denn ich will nicht auffallen damit, sondern meine Ruhe haben und einfach nicht begrenzt werden in meinem Freiheitsbedürfnis. LG Evelyne

  2. Liebe Gabi
    Mit fast 50 fühle ich mich auch viel besser als in den Jahren davor, als wäre ich nun ein reifer Wein. Ich hab so viel gelernt in den vergangenen Jahren und im letzten Jahr kam das große Loslassen, nicht nur von unnötigem Kram, sondern auch innerlich. Ich war nie der große Konsument, aber mir fiel es immer schwer, Dinge wegzuwerfen. Ich war ein perfektionistischer, lückenloser Wissensmessie (Wissen ist Macht und bedeutet weniger Ohnmacht!) und besaß sehr viele Bücher, die mein Neffe zum Glück größtenteils verkaufen konnte. Mein nun möbelloser Besitz umfasst 5qm Lagerraum, davon größtenteils Papierkram, den ich noch abbauen werde (wegwerfen und wo sinnvoll digitalisieren).

    Was die Ruhe angeht: Ich kaufe sonst nichts außer Lebensmittel u.Ä., gönne mir aber dafür das Schweizer Generalabo 1. Klasse mit Ruhezone, wo wirklich niemand reden darf. Ist sehr meditativ, in dieser Stille die Alpen zu bereisen. 🙂
    Liebe Grüße aus der Schweiz, Evelyne

  3. „…probiere und fühle hin, wie es mir geht, was ich brauche, was ich evtl. auch anders brauche…“
    Das ist es doch, worauf es ankommt, oder? Mit sich ins Reine kommen, sich mit sich wohl fühlen.
    Leider habe ich ich das erst vor nicht all zu langer Zeit schmerzlich lernen müssen. Nachdem gar nichts mehr ging. Als ich ganz unten „im Loch“ saß und das Licht kaum noch sehen konnte.
    Sich verbiegen, um „normal“ zu sein, oder um es jedem recht zu machen, macht die Seele krank. Das ist wohl Lebenserfahrung. Manchmal ist es doch gar nicht so schlecht, nicht mehr 17 zu sein. 😉

    Liebe Grüße, M@ria

    1. Hallo M@ria, wer es jedem recht machen will, macht es jedem recht – außer sich selbst. Zum Teil erlebe ich zunehmend auch genau das Gegenteil: Menschen, die mit einem Tunnelblick durchs Leben laufen und außer sich selbst nichts mehr registrieren. Das passt ebenso wenig. Es ist die Kunst, die richtige Balance zu finden und da gehts mir genauso: Im Laufe der Jahre gelingt es mir immer besser.

  4. Hallo Gabi,

    vielen Dank für diesen tollen Impuls!

    Ob normal oder nicht, auch mit 65, 76 oder 82 kann man sich noch nicht so alt fühlen, solang der Geist jung bleibt. Womöglich etwas vermessen, wenn ich das als Mittzwanziger sage, aber diese Erfahrung habe ich in den letzten Jahren oft gemacht.

    Lieber Gruß,
    Philipp

    1. Hallo Phillip, da hast du recht. In manchen Bereichen bin ich heute innerlich sehr viel jünger, als früher. Trotzdem ändert sich im Laufe der Jahre schon einiges. Allerdings tatsächlich nicht alles zum Nachteil. Manches fühlt sich sogar sehr viel besser an, gerade dann, wenn es um innere Unabhängigkeit geht und „das eigene Ding zu machen“.

  5. Ach, es war heute so schön. Wir mussten einen neuen Kindersitz kaufen und waren extra vor zehn Uhr im Fachgeschäft (vorher nachgefragt, wann es leerer ist), um danach gemeinsam in einem schönen und beliebten Café zu frühstücken. Dort eine kleine Überraschung – es war heute leer. Außer uns nur wenig andere Gäste, wo es sonst oft komplett ausgebucht ist. Scheinbar müssen heute alle einkaufen. Im Radio die Durchsage, dass in Oldenburg die Parkhäuser voll sind. Ich fühlte mich ein bisschen wie in einer anderen Welt. Ein Leben außerhalb der Normalität kann so viel entspannter sein 🙂

    1. Hallo Nanne, hier war es ähnlich. In der U-Bahn war es noch überfüllt, man bekam kaum einen Stehplatz – alle strömten in die Einkaufsmeile. Im Kino war es dann bis auf wenige Leute leer, ruhig, erholsam. Auch sehr schön.

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