Achtsamkeit und Minimalismus – Ideal und Alltag

Achtsamkeit – Glückseligkeit oder Alltag?

Angenehme Gefühle während einer Meditation sind etwas sehr schönes. Auch für mich. Und ich genieße es. Das ist auch in Ordnung. Aber deshalb sind solchen angenehmen Gefühlszustände keine seichte Wolke, keine ewige Glückseligkeit.  Wer sagt, diese schönen Seiten seien ewig, auf Knopfdruck abrufbar, konstruierbar, macht sich selbst und anderen etwas vor. In der Achtsamkeitspraxis sind nicht einmal die unangenehmen Gefühle dazu geeignet, es sich darin dauerhaft (un-)gemütlich zu machen.
Achtsamkeit ist die Begegnung im Jetzt und dem, was ich in diesem Jetzt wahrnehme: von mir und der Welt um mich herum. Schon beim nächsten Atemzug ist das zuvor wahrgenommene Jetzt bereits Vergangenheit und ich befinde mich in einer anderen Realität. Leben ist immer Veränderung. Selbst formelle Achtsamkeitsübungen sind vor allem eins: Übungen. Achtsamkeit lebt vom Tun und all die Übungen brauchen insbesondere eine Resonanz im Alltag und die Erkenntnis, dass das einzig Dauerhafte die Veränderung ist.

 

Minimalismus – Wer oder was bin ich wirklich?

Im nächsten Einkaufszentrum kann ich nicht nur Dinge kaufen, sondern mir wird suggeriert, dass ich mir auch den dazugehörigen Lifestyle shoppen und die vermeintlich schönen Gefühle gleich dazu einkaufen kann. Damit kann ich mir Zufriedenheit und Glück vorgaukeln, mich damit gegenüber anderen Menschen präsentieren und mir vielleicht sogar einreden, dass ich mir die Anerkennung oder ein Dazugehörigkeitsgefühl kaufen kann.

Kann ich vergleichbares nicht auch mit dem Minimalismus? Also vergleichbare Gefühle mit umgekehrten Vorzeichen? Ich befreie mich z.B. von den Dingen um mich herum und genieße nicht nur die Freiheit, sondern auch den dazu gehörigen Lifestyle-Minimalismus. Dagegen spricht erstmal nichts, ich sollte mir nur klar darüber sein. Vielleicht genieße ich damit auch die Dazugehörigkeit zu einer größeren werdenden Gruppe von Menschen. Ich kann mich gleichzeitig von einer anderen Gruppe Menschen, den Viel-Shoppern absetzen. Auch darin sehe ich kein Drama, wenn ich einfach weiß, dass es so ist. Dann ist zusätzlich das Internet und insbesondere die Sozialen Medien eine ideale Plattform, um mich damit zu präsentieren, repräsentieren und mich vielleicht sogar ein bisschen idealer darzustellen, als ich in Wirklichkeit bin. Auch da könnte ich sagen: Ok, was soll’s?

Problematisch wird es aus meiner Sicht dort, wo ich eigene Ideale und Illusionen, nicht mehr von den jeweiligen, persönlichen Realitäten unterscheiden kann.  Und die Beziehung zu meinen Mitmenschen wird in der Regel nicht besser, wenn ich mich genau von diesen Menschen abheben will. Denn damit schaffe ich erstmal Distanz und im Idealfall maximal Bewunderung. Aber Bewunderung kann ebenso schnell platzen, wie eine Seifenblase.

 

Das eigene Leben und den Alltag gestalten

Sowohl Achtsamkeit, als auch Minimalismus sind für mich ganz wesentlich auch dort wertvoll, wo sie mich zu der Frage führen, wie ich mein Leben und meinen Alltag gestalten will – auch abseits von Internet, Sozialen Netzwerken, abseits all der Videos, Fotos, Kommentare und Likes. Was ist, wenn die erste Meditations- oder Minimalismus-Euphorie verflogen ist und der Alltag einkehrt? Was ist, wenn statt eitel Sonnenschein, der Himmel einfach nur noch grau verhangen ist?

Achtsamkeit und Minimalismus sind für mich dort wichtig, wo ich mir die ehrliche Frage erlauben kann, was ich eigentlich von diesem Leben will. Was ist wesentlich? Was ist relevant? Wie gehe ich mit mir und meiner Umwelt um? Was ist, wenn mir statt Schenkel- und Schulterklopfern, plötzlich Unverständnis und Kopfschütteln begegnen? Was tun mit Selbstzweifeln, Unsicherheit, dem Gefühl von Überlastung oder innerer Leere? Was ist, wenn dann doch nicht immer alles so bunt und schön ist, wie ich mir es anfangs dachte?

In der Achtsamkeitspraxis ist die Übung des Mitgefühls (Metta) ein zentraler Bestandteil. Freundlichkeit und Mitgefühl mit mir, den Menschen und der Welt um mich herum. Auch das ist natürlich nicht mal eben so einfach – aber sehr hilfreich. Mir persönlich ist so etwas wie Erleuchtung durch Meditation ehrlich gesagt völlig egal. Mir ist Wachheit und Aufmerksamkeit viel wichtiger. Die Wachheit und den Mut, zu sehen, was da ist und mit weniger verzerrtem Blick zu überlegen, welche nächsten Schritte ich konkret gehen will.

Wir brauchen sie eigentlich nicht, diese verzerrten Selbstdarstellungen. Wir brauchen keine Illusionen, kein Verirren in irgendeinem gerade aktuellen Lifestyle. Vielleicht können wir uns stattdessen darum bemühen, uns aufmerksamer zu begegnen. Wir können uns gegenseitig unterstützen, miteinander diskutieren, austauschen, anregen, ermutigen oder gemeinsam konkret und praktisch aktiv werden. Anstatt sich selbst und anderen etwas vorzumachen, können wir ganz kleine, alltägliche Schritte gehen, vielleicht einfach etwas freundlicher zu sein: Zu uns selbst, unseren Mitmenschen, unserer Umwelt. Und vielleicht fällt es uns dann einfacher, dem mitunter grauen Alltag wieder mit Leben und Farbe zu füllen und ihm vielleicht sogar ein paar schöne Seiten abzugewinnen.

 

6 thoughts on “Achtsamkeit und Minimalismus – Ideal und Alltag

  1. Liebe Gabi, danke für deinen schönen Beitrag! Ich würde sogar sagen, Achtsamkeit führt definitiv erstmal dazu, dass viele ungemütliche Gefühle erst ins Bewusstsein kommen! Wir sie wahrnehmen und so ansehen können. Wie viele Menschen verdecken diese, durch ihre permanente Ablenkung aus dem Jetzt, und vergraben sie damit auf ungbestimmte Zeit im Unterbewusstsein…. Achtsamkeit bringt erst einen Prozess in Gang, der uns wirklich Ganz werden und heilen lässt, aber eben durch viele Schichten hindurch..

    1. Hallo Andreas, stimmt – Achtsamkeit ist keine Happypille und wie heißt es doch so passend: „Du kannst die Wellen nicht stoppen, aber du kannst lernen zu surfen.“ (Jon Kabat-Zinn). Linda Lehrhaupt nennt es „die Wellen des Lebens reiten…“ Für mich sind diese Aussagen zentral.

  2. Hallo Gabi,
    vielen Dank für diesen Artikel! Du triffst in vielen Punkten den Nagel auf den Kopf. Seit ca. 6 Monaten entrümple ich mein Leben in Richtung Minimalismus. Erst die Befreiung von zu viel Dingen hat mir Raum für mehr Achtsamkeit geöffnet. Ich fühle mich nicht mehr so eingebunden und bin dadurch viel bewußter in meinen Entscheidungen geworden.

    Liebe Grüße
    Angela

    PS: Darf ich deinen Artikel auf meiner Seite verlinken?

  3. Hallo, Gabi,
    danke für diesen interessanten Artikel. Deine Aussagen
    „Sowohl Achtsamkeit, als auch Minimalismus sind für mich ganz wesentlich auch dort wertvoll, wo sie mich zu der Frage führen, wie ich mein Leben und meinen Alltag gestalten will“ und
    „Achtsamkeit und Minimalismus sind für mich dort wichtig, wo ich mir die ehrliche Frage erlauben kann, was ich eigentlich von diesem Leben will. Was ist wesentlich? Was ist relevant? Wie gehe ich mit mir und meiner Umwelt um?“
    treffen auch sehr gut auf mich persönlich zu. Durch Achtsamkeit habe ich schon einiges Interessante über mich herausgefunden, was ich sonst nicht bemerkt hätte. Beim Minimalismus konnte ich (auch mit Achtsamkeit!) lernen, dass ich dazu neige, mir mehr Radikalität zu wünschen als für mich gut oder in meinem jetzigen Leben machbar wäre. Viel wichtiger ist es, herauszufinden, was genau zu mir passt. Das Weniger von allem – Dingen, Aufgaben, Ansprüchen, Wünschen – ist dabei für mich sehr wichtig.
    Achtsamkeit und Minimalismus greifen wirklich immer wieder super ineinander.

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