Minimalismus: Wieviel ist richtig, passend oder unpassend?
Was und wieviel? Eine Frage, die sich in einer Reihe von Bereichen stellt: Wieviel ist passend oder unpassend? Wieviel Geld, Arbeit, Freizeit, Erholung, Konsum?
Mich erstaunt immer wieder, wie unterschiedlich beispielsweise gesehen wird, welchen Konsum und Komfort wir benötigen oder auch nicht. Diejenigen, die viel haben, sind meistens auch der felsenfesten Überzeugung, dass es genau so sein muss. Weniger gehe keinesfalls.
Ich komme beruflich bedingt viel herum und beobachte seit Jahren die Tendenz, dass die Fernseher immer größer werden. Stand ich noch vor einigen Jahren fast ungläubig vor einem TV mit fast 100cm-Diagonale, wundert es mich heute nicht mehr, ich registriere es kaum noch. Aber nicht nur beim Komfort stellt sich für mich die Frage, wieviel das richtige Maß ist und wann etwas vielleicht zu viel ist. Letztlich kann ich mir die Frage auch umgekehrt stellen:
Wieviel Minimalismus und wieviel Konsum ist passend? Das richtige Maß finden
Was ist das richtige Maß? Gibt es vielleicht sogar den Punkt, wo das richtige Maß beim Minimalisieren nicht mehr stimmt, weil z.B. zuviel reduziert wurde?
Auch bei Meditation und Achtsamkeit kann ich die Frage des richtigen Maßes stellen. So erleben wir um uns herum viel mediale Ablenkungen, Schnelllebigkeit, Lärm, Hektik. Üblicherweise haben wir kaum noch gelernt, überhaupt zur Ruhe zu kommen. Wenn Zeit und Ruhe da ist, läuft der Fernseher, Musik, es wird gechattet, usw.. Selbst die Wartezeit an der Bushaltestelle wird genutzt, um mal eben ins Internet zu schauen, anstatt einfach mal einige Momente des absoluten Nichtstuns bewusst zu erleben. Dann auf einmal von jetzt auf gleich stundenlang meditieren zu wollen, ist das dann das richtige Maß? Das kann durchaus sein, es kann aber auch komplett daneben gehen.
Denn: DAS richtige Maß, gibt es zumindestens für mich, eigentlich sowieso nicht so klar und eindeutig. Das jeweils passende Maß muss immer wieder neu austariert werden. Für mich hat es sehr viel mit Balance zu tun. Das richtige Maß ist keine starre Größe, wie z.B. „nur wer lediglich 100 Teile besitzt ist Minimalist…“, sondern ein Ausbalancieren mit der Frage: Wo und wann ist der Punkt erreicht, wo etwas nicht mehr passt, wo die innere Mitte vielleicht verloren gegangen ist?
Wann geht das persönliche richtige Maß verloren – woran merke ich das?
Hinweise darauf, wann das persönlich passende Maß verloren gegangen ist gibts eigentlich viele, z.B. persönliche Stressreaktionen aufgrund von Überarbeitung (Arbeitsmaß passt nicht mehr) ebenso wie gelangweiltes Herumsitzen, weil mir eine Aufgabe oder Herausforderung fehlt (Nicht-Arbeitsmaß ist unpassend). Möglicherweise ist es auch nicht dieses oder jenes anzuschaffende oder zu reduzierende Teil, sondern in Wirklichkeit vielleicht ein gärendes Gefühl von Unzufriedenheit, Neid, Mißgunst. Es kann auch das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Anerkennung sein, welches mich beim Konsumieren bzw. Minimalisieren in Bereiche führt, die eigentlich nicht mehr passend für mich sind. Genauer: Wo es letztlich nicht mehr darum geht, ob ich jetzt wirklich dieses Teil unbedingt kaufen oder auch unbedingt loswerden muss. Vielleicht ist da etwas ganz anderes aus der Balance geraten. Vielleicht stimmt bei ganz anderen Bereichen das richtige Maß nicht mehr.
Vier achtsam-minimalistische Tipps, um das persönlich richtige Maß zu finden
- Regelmäßig in sich hinein hören und versuchen, ehrlich mit sich selbst zu sein: Welches Bedürfnis habe ich gerade jetzt wirklich? Was möchte ich erreichen? Was ist mir jetzt unangenehm? Wie fühle ich mich gerade jetzt? Was habe ich möglicherweise unmittelbar vorher erlebt und wie geht es mir jetzt damit? Achtsamkeitsübungen finde ich ideal dafür, solches In-sich-hinein-hören zu erlernen und zu kultivieren.
- Einfach mal was anders machen, die üblichen Abläufe einmal anders gestalten, z.B.: Das Smartphone mal einige Tage Zuhause lassen und beim Zugfahren einfach aus dem Fenster zu schauen. Oder: Wenn ich solche Geräte ohnehin ablehne und nie benutze: Mal so ein Gerät leihen und unterwegs mal benutzen. Mal testweise das Fernsehgerät einen Tag auslassen. Oder sogar das Internet Zuhause… Das geht natürlich auch umgekehrt: Wenn Sie ohnehin nie Fernsehen oder Filme schauen: einfach mal einen Filmabend machen und schauen, was passiert, wie es Ihnen und Ihrer inneren Balance damit geht.
- Entschleunigung: In regelmäßigen Abständen immer mal wieder sowohl die eigenen Ansprüche, als auch die angehäuften Termine herunter fahren. Zeitlicher Raum schafft inneren Raum.
- Begegnen statt Chat: Sich mit Freunden treffen, Unternehmungen mit der Familie, Gespräche, gemeinsame Aktivitäten oder einfach gemeinsames Nichtstun, eine Kaffee- oder Teerunde im Garten, der Spaziergang im Wald. Miteinander und füreinander Zeit zu haben, füllt genau die Lücken aus, die ein neues technisches Wunderwerk niemals wird füllen können.
Hallo Ingrid, ja das ist vielleicht auch ein ganz wichtiger Schlüssel: dass in unserer schnelllebigen Gesellschaft auch mal was langsam wachsen kann und sollte. Wer mit Hochgeschwindigkeit durchs Leben rast, übersieht zu vieles.
Diese Überlegungen werden einen ein Leben lang beschäftigen, denn – wie du selbst schreibst – „es muss immer neu austariert werden“. Man muss vieles hinterfragen, vieles ‚abschälen‘, um an den Kern zu kommen und herauszufinden, was man wirklich will und was einem gut tut. Übermäßiger Luxus und übermäßige Fülle können einfach nicht gut tun, aber dieses asketische Gar-nichts-mehr empfinde ich ebenso als übertrieben. Alles muss langsam wachsen und sich entwickeln.
Liebe Grüße,
Ingrid