Für mich gehören Achtsamkeit und Minimalismus zusammen. Aber warum eigentlich? Und worin liegt die Chance, beide Bereiche miteinander zu verbinden? Dazu einige Gedanken:
Der Raum zwischen Reiz und Reaktion – aus dem „Autopilot“ aussteigen
Es ist ein spannender Prozess, nicht wie üblich spontan und automatisch zu reagieren, sondern erstmal einen Moment lang inne zu halten. Jon Kabat-Zinn nennt dies „aus dem Autopilot aussteigen“ (vgl.: Jon Kabat-Zinn, Gesund durch Meditation, O.W. Barth-Verlag, E-Book, Teil 1: Die Übung der Achtsamkeit).
So können wir z.B. einen Arbeitstag bewusst und achtsam beenden. Den Computer z.B. ohne Ablenkung herunter fahren, das Diensthandy ausschalten, Gegenstände wegräumen.
Auf dem Weg nach Hause können wir dann wahrnehmen, wie die eigenen Reaktionen z.B. auf Zugausfälle, Staus, rote Ampeln sind. Gerade in Situationen, in denen wir müde, angestrengt, verärgert sind, ist es sinnvoll, sich etwas Gutes tun zu. Aber warum versuchen wir genau in solchen Situationen so oft, uns dass Leben durch irgendwelche Konsumwünsche angenehmer zu gestalten? Gibt es dazu Alternativen? Eine Chance der Achtsamkeit im Alltag liegt darin, inne zu halten und den Raum zwischen Reiz und Reaktionen zu nutzen. Viktor Frankl formuliert dies so:
„Zwischen Reiz und Reaktion gibt es einen Raum. In diesem Raum haben wir die Freiheit und die Macht, unsere Reaktion zu wählen. In unserer Reaktion liegen unser Wachstum und unsere Freiheit.“ (Alex Pattakos, Gefangene unserer Gedanken: Viktor Franks 7 Prinzipien, die Leben und Sinn geben, Verlag Linde International, 2. Auflage, S. 8).
Es geht um diesen Raum der Freiheit. Die Freiheit, selbst zu entscheiden, ob ich beispielsweise wirklich meinen spontanen Wünschen folge und welche dieser Wünsche ich auch wieder loslasse.
Loslassen
Ich bin mir bewusst, dass es sehr vereinfacht ist, wenn ich bei Achtsamkeit von „Loslassen im Innen“ und bei Minimalismus von „Loslassen im Außen“ spreche. In diesem Fall habe ich diese Vereinfachung einmal bewusst gewählt, um Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten zu beschreiben:
Achtsamkeit – Loslassen im Innen
Den Menschen, die Achtsamkeit und Meditation in ihren Alltag integriert haben, wird früher oder später das Thema „Loslassen“ bewusst. So geht es z.B. in einer Atemmeditation darum, den Atem zu beobachten. Aber dann bemerken wir, dass die Gedanken doch wieder wandern. Wird uns dies bewusst, ist der nächste Schritt, freundlich, aber konsequent, diese Gedanken loszulassen und zur Wahrnehmung des Atems zurück kehren: 1x, 10x, 100x, 1000x, 10000x, immer wieder…
Minimalismus – Loslassen im Außen
Der oben beschriebene Raum zwischen Reiz und Reaktion lässt sich aber nicht nur in einem inneren Prozess, sondern auch ganz konkret im Außen und auf die Besitztümer um ums herum übertragen. Der minimalistische Lebensstil befasst sich u.a. mit der Frage, welche Dinge wir um mich herum angesammelt haben und ob diese ins eigene Leben passen oder nicht. Welche Dinge sind evtl. nicht förderlich, welche belasten mich, was kann, will und sollte ich loslassen?
Wenn wir in Urlaub fahren, haben wir ja auch nicht den gesamten Kleiderschrank, die Bibliothek oder die ganze Küchenausstattung dabei. Geht es uns deshalb schlechter?
„Probieren geht übers Studieren“
Was passiert eigentlich in und mit mir, wenn ich auf den ein oder anderen Neukauf verzichte oder einige Gegenstände mal vorübergehend in Kisten packe, auf Keller oder Dachboden parke? Auch mit dieser Frage kann ich achtsam umgehen.
- Vermisse ich was?
- Bin ich bedrückt?
- Bin ich erleichtert?
- Wie fühle ich mich in der nun etwas leereren Wohnung?
- Welche Empfindungen, Gedanken, Sorgen, Ängste steigen in mir hoch? Sind sie begründet?
- Welche der Dinge möchte ich nun wieder zurück holen und warum?
- Wenn ich sie dann zurück geholt habe, wie fühle ich mich jetzt?
- Sind meine Erwartungen, die ich vor dem Zurückholen hatte, jetzt erfüllt?
Nicht jede/r muss Minimalist_In werden, nicht jeder muss Meditieren.
Aber vielleicht macht es eben doch einen Unterschied, ob ich in einer Meditation loslasse und dies dann auch ganz praktisch mit den ein oder anderen Gegenständen tue. Welche Qualität bekommt dadurch mein Alltag, meine Achtsamkeits- und Meditationspraxis? Und wenn ich als Minimalist_In Dinge, Gegenstände losgelassen habe, wie geht es mir, wenn ich darüber hinaus dann auch mal nach Innen schaue und was es dort loszulassen gibt?
Sich seiner eigenen Bedürfnisse, Gewohnheiten, Automatismen, Reaktionen bewusster zu werden, kann einen besseren Zugang zu sich selbst, aber auch zu seiner Umwelt schaffen. Und vielleicht gelingt es uns dann ein kleines Stückchen besser, nicht mehr nur im Autopilot-Modus durchs Leben zu stolpern, in ungesunden Gewohnheiten zu verharren, uns permanent selbst zu überfordern oder den falschen Konsumversprechungen zu erliegen.
Innen und Außen, Ich und Andere: Lässt sich das trennen, wo es eigentlich doch auch zusammen gehört oder zumindestens miteinander in Verbindung steht?
Tipps zum Weiterlesen:
- Achtsamkeitsübungen: Eine Linkliste mit zahlreichen Übungen, auch für Anfänger und Übungen zur Alltagsachtsamkeit.
Toller Artikel!
Besonders ansprechend fand ich das Zitat „Zwischen Reiz und Reaktion gibt es einen Raum. In diesem Raum haben wir die Freiheit und die Macht, unsere Reaktion zu wählen.“ Meist nehmen wir diesen Raum gar nicht wahr. Wir denken, wir müssten auf einen Reiz auf eine bestimmte Weise reagieren und könnten nicht anders. Aber das stimmt ja gar nicht. Wir haben immer die Wahl. Wir können auch nur wahrnehmen und beobachten, was der Reiz auslöst ohne das Geringste zu tun. Das kann ganz schön interessant sein, und man lernt eine Menge über sich selbst!