Von Besitz trennen schmerzt?
Es heißt immer wieder, dass persönlichen Besitz abzugeben, die gleichen Hirnareale aktiviert, wie physischer Schmerz. Ich kenne mich nicht im Detail mit Neurowissenschaften aus, behaupte aber mal ganz einfach, dass es umgekehrt genauso sein kann. Anders ist die befreiende Wirkung eines gründlichen Entrümpelns wohl auch kaum zu erklären.
Wie schmerzhaft ist es, Dinge zu behalten?
Wie schmerzhaft ist es eigentlich, Dinge zu behalten, obwohl ich sie nicht (mehr) mag oder sie mir nicht gut tun? Den Alltag achtsam gestalten heißt auch, einmal dorthin zu schauen, wo die Dinge gut tun und wo nicht (mehr). Schmerzhaftes Behalten von Dingen, das können die Utensilien für Hobbys sein, die seit Jahren brach liegen. Vielleicht ist es auch das edle Sportzeug, welches für ein Halbmarathon-Training gedacht war, aber als überzeugter Couch-Potato, nur für eine zweimalige, mühsame Quälerei durch den Stadtpark gereicht hat. Natürlich könnten wir uns genau an der Stelle mit neuem Konsum betäuben, um genau diesen Schmerz der unsinnigen Dinge nicht zu spüren.
Dann gibt es auch die Dinge, die wir aus einer spontanen Konsumlaune heraus gekauft haben, um dann später festzustellen, dass sie komplett unsinnig und überflüssig sind. Nun steht das Zeugs also rum. Es hat ja schließlich Geld gekostet. Also trösten wir uns damit, dass die Dinge doch mal nützlich sein könnten. Irgendwann mal…vielleicht… Oder doch verkaufen? Aber man bekommt einfach nichts mehr dafür. Also steht das Zeug immer noch rum.
Manchmal ist es der ganze Kleinkram, der unsere Wohnung verstopft. Auch Kleinkram in größerer Menge kann unzufrieden machen, weil er immer irgendwo rum liegt, endlich irgendwo untergebracht, abgestaubt und aufgeräumt werden müsste. Und wie belastend ist es eigentlich, Stauraum für Dinge zu finden, die man nicht (mehr) mag, die nicht gut tun oder überflüssig sind? Manchmal ist es auch einfach „nur“ der banale physische Schmerz, wenn man z.B. nachts beim Gang zum WC, über die herum liegenden Dinge stolpert, für die in Regalen und Schränken kein Platz mehr ist.
Und so können diese Dinge unser Leben und unser Wohlbefinden belasten. Wenn der unnötige Kram Zuhause herum steht, dann kann es sehr schmerzhaft sein, sich ständig an Fehlkäufe oder Hobbys zu erinnern, die doch nicht so richtig passend waren. Es kostet zudem einiges an Lebensenergie, die Illusion aufrecht zu erhalten, dass man dieses oder jenes Teil nochmal verwenden kann. Meistens spüren wir längst im tiefsten Innern, wenn es absehbar nie so sein wird. Trotzdem halten wir an Dingen und den damit verbundenen Illusionen fest.
Die einfachste Regel, sich von Dingen zu trennen
Überlege vor dem Kauf, was das Ding kostet und dass irgendwann der Zeitpunkt kommen wird, wo genau dieses Teil überflüssig sein wird.
Dazu eine kleine Achtsamkeitsübung in der Kassenzone:
Nimm einen Zettel oder ein kleines Stück Pappe, schneide dies in der Größe einer EC- oder Kreditkarte oder eines Geldscheines zurecht und lege dieses Erinnerungskärtchen in die Geldbörse – idealerweise dort, wo sich die Geldkarten oder das Bargeld befindet. Der darauf befindliche Text:
„Brauche ich dieses Ding wirklich oder will ich es nur haben?“
Aufregungen und Anhaftungen loslassen
Wenn, dann rege dich vor einem Kauf auf, wie teuer etwas ist und verabschiede diese „Teuer-Aufregungen“ endgültig und für immer, sobald du an der Kasse bezahlt hast! Es mag provokant klingen, aber, ob man sich dann 1 Tag, 1 Woche oder 1 Jahr später von genau diesem Ding wieder verabschiedest, ist letztlich egal. Das Geld ist futsch und genau dieses ausgegebene Geld kann nun mal nicht gleichzeitig für etwas anderes verwenden.
Schadensbegrenzung: Befreie dich!
Manchmal geht es beim Reduzieren von persönlichem Besitz auch um Schadensbegrenzung. Auch dies gehört zum achtsamen und fürsorglichen Umgang mit sich selbst. Das kann der Schmerz der Erinnerung an einen Fehlkauf sein, das Missgefühl, es mit diesem Hobby oder jener Sportart doch nicht so hinbekommen zu haben. Vielleicht sind es negative Empfindungen und Erinnerungen an Zeiten, Menschen, Lebenssituationen, die mit bestimmten Dingen verbunden sind. Mag sein, dass es beim Reduzieren dieser Dinge, dann immer noch ein Trennungsschmerz gibt. Aber gerade die negativen Erinnerungen und Empfindungen, die mit diesen Dingen verbunden waren, haben nun endlich eine Chance, auch innerlich verabschiedet zu werden.
Als physische Wesen benötigen wir natürlich immer irgendwelche Dinge. Aber Dinge zu kaufen, zu behalten und zu horten, ohne wirklich darauf zu achten, ob das diese Dinge wirklich Sinn machen, ist jene Form von Anhaftung, die uns einengt. Achtsamer und fürsorglicher sich selbst und der Umwelt gegenüber zu werden, schafft Befreiung von dieser Form des unnötigen Leidens.
Hallo Gabi!
Mir geht es z.B. so mit dem Kleiderschrank, wenn ich ein Teil habe, das zu klein geworden ist oder das ich mir vielleicht sogar zu klein gekauft habe.
Wenn ich es aufhebe, sehe ich es fast jeden Tag und jedes Mal kommt der Impuls – ich bin zu dick, das Teil passt nicht (mehr), ich muss endlich abnehmen.
Wie das runter zieht! Das ist kann sich kaum jemand vorstellen.
Zum Glück bin ich inzwischen so weit, dass ich das nicht mehr möchte. Habe alle Teile, die zu klein sind oder sich zu eng anfühlen verschenkt und besitze nur noch Teile, die ich mag und die mir gut passen.
Was für ein schönes Gefühl nun Kleidung für den Tag auszusuchen!
Das ist nur ein Beispiel und unterstreicht vor allem auch Dein Beispiel mit der Sportbekleidung, die immer wieder daran erinnert, woran man gescheitert ist. Es sind die Gefühle, die mit den Teilen mitschwingen, die so lähmen und runter ziehen!
lg
Maria
Ja, genau so etwas meine ich. Mit den Dingen so umgehen, dass sie nicht das eigene Gefühlsleben runter ziehen, nicht unglücklich machen.
Ich verstehe auch nicht, dass man sich von ungenutzten Dingen wie teure Porzellanservice und Silberbesteck, originalverpackt nicht trennen kann, weil irgendwann mal sehr teuer. Dann widerum im Alter nicht in die praktische 2 ZKB Wohnung ziehen kann eben wegen genau dieser ungenutzten Kartons.
Und dann steht am Ende Service und Besteck im großen Wohnzimmerschrank. Und dann auch noch im 3. OG oder drüber zu wohnen und gerade im Alter dann nicht frühzeitig umzuziehen, kann ich kaum nachvollziehen. Ich habe inzwischen etliche ältere Leute kennen gelernt, die aus ihrer Wohnung nicht mehr raus kamen. Ich habe es wie eine Art freiwilliges Gefängnis empfunden. Und das wegen irgendwelcher Sofa-Sitzgarnituren, Schränke, Silberbestecke und Porzellanservices.
Danke, Gabi. In der Psychologie nennt sich das Phänomen „versunkene Kosten.“ Hab’s gerade entdeckt. Man hat schon zu viel reininvestiert und löst sich nicht von Dingen, die längst nicht mehr stimmig sind. Deshalb freue ich mich immer, wenn Leute in Renovierungssendungen am Ende ihre Häuser wieder verkaufen weil das Projekt viel zu teuer war oder zu groß für sie ist, die Kraft ausging. Das ist eine Leistung sich das einzugestehen und den Weg wieder zurück zu finden. Jetzt kann ich mit gutem Gewissen zwei meiner Jacken weggeben. Zum Glück ist es keine Immobilie.
Sonnengrüße von hier – Tanja
„Versunkene Kosten“ – spannend. Kannte ich auch noch nicht. 🙂
Hallo Gabi,
ich befinde, dass unnötiger Besitz nicht nur schmerzt, sondern auch lähmt. So erdrückend kann die Last sein.
Zum Glück können wir uns bereits mit kleinen Schritten aus dieser Ohnmacht befreien. Ich bin als Einzelkind beispielsweise froh, dass meine Eltern bereits jetzt gelegentlich aussortieren und empfinde ein Haus im Besitz bereits als Bürde genug.
Lieber Gruß,
Philipp
Kompliment an deine Eltern, dass sie jetzt schon mal aussortieren. Viele schaffen das nicht, erst recht nicht, wenn sie dann noch ein eigenes Haus haben.
Da liegen sie voll im Trend – Death cleaning (Döstädning). ?
Oha, na bis dahin habe ich hoffentlich noch etwas Zeit… 🙂
Mir geht es gerade so mit Jacken. Meine Lieblingsjacke nach 4 Jahren Innigkeit in den Müll verabschieden müssen. Die anderen 4 werden es nie sein, wie du so schön schreibst. Dabei dachte ich immer, wunderbar wenn ich mal eine weniger habe. Jetzt warte ich mal bis ich die Trauer überwunden habe, bevor ich eine kaufe oder aussortiere. Es geht mir um den optimalen Besitz. Muss nicht viel sein.
lg Tanja
Oh, ich habe früher solche Teile noch ewig aufbewahrt, weil ich sie ja vielleicht doch nochmal anziehen könnte. Mit dem Ergebnis, dann irgendwann wirklich einen „Kleiderschrank voll mit nix anzuziehen“ zu haben.
Sehr schön geschrieben. Mein Mann und ich haben uns gestern getrennt. Ich kann es genauso auf ihn übertragen. Das Geld ist die verlorene Zeit. Wenn er es Wert gewesen wäre und reichlich überlegt gewesen wäre, wäre es die investierte Zeit Wert gewesen, ihn zu behalten. Aber wenn die unschönen Dinge überwiegen, ist es Zeit Schadensbegrenzung zu betreiben. Auch die verlorene Zeit, wie das Geld kommt nicht wieder. Genauso ist es mit Dingen, wenn man an ihnen „klebt“ könnte doch noch… Es ist ganz genauso. Das Ding ändert sich nicht, genau wie die Person. Das sollte man sich bewusst machen.
Nicht wenige Minimalisten fangen im Prozess ihres unbefriedigenden Lebens auch an, Menschen und Partner auszusortieren und der Beginn der Entrümplung von Dingen ist nur eines der Symptome mehr Achtsamkeit, Selbstpflege und Selbstliebe zu sich selbst zu finden.
„…der Beginn der Entrümplung von Dingen ist nur eines der Symptome mehr Achtsamkeit, Selbstpflege und Selbstliebe zu sich selbst zu finden…“
Besser hätte ich es nicht ausdrücken können – herzlichen Dank dafür! Und dir einen guten Start in deinen neuen Lebensabschnitt. Lebensabschnitt ist ja so ein doppeldeutiges Wort: Ein Schnitt schmerzt, aber er verheilt auch und was folgt ist das neue, zufriedenere Leben. Genau darum geht es 🙂