Achtsamkeit und Minimalismus – wie privat und wie gesellschaftlich ist das?

Selbstoptimierung und Perfektionierung

Immer mal wieder begegnet mir im Zusammenhang mit Minimalismus der Begriff „Selbstoptimierung“. Auch im Zusammenhang mit Achtsamkeit lese ich diesen Begriff öfter. Achtsamkeit und Minimalismus haben zunächst mal vorrangig mit mir ganz persönlich zu tun. Aber sich optimieren und perfektionieren: Für wen oder was denn eigentlich? Wirklich für mich? Oder für andere? Und ist das alles? Oder gibt es da noch viel mehr und viel wichtigeres?

Bewusstes Wahrnehmen und Handeln

Jon Kabat-Zinn nutzt im Zusammenhang mit Achtsamkeit gerne die Formulierung „aus dem Autopiloten auszusteigen“. Damit meint er, aus nicht mehr automatisch zu reagieren und zu handeln, sondern bewusst. Achtsamkeit ist ein Wahrnehmen der gerade aktuellen Situation. Aber mal „nur“ auf den Atem achten und schon bin ich automatisch wunderbar entspannt, relaxt und selbst optimiert – so einfach ist das nicht. Wer schon einmal meditiert hat, weiß, wie schnell das eigene Kopfkino einen Film nach dem anderen dreht, der Körper hier oder da zwickt und auch das eigene Gefühlsleben nicht nur schöne emotionale Blumenwiesen hervor zaubert.

Mit Minimalismus, also einem konsumreduzierten und konsumbewussten Lebensstil, ist es vergleichbar. Der Autopilot „kaufe ich“ wird bewusst angehalten und ich übernehme wieder selbst das Steuer. Denn auch beim Konsumieren gibt es z.B. das „Kopfkino“, welches automatisch in Aktion tritt. Beispielsweise dann, wenn ich anfange, mir Gründe ausdenke, warum ich dieses Teil unbedingt haben muss. Oder ich meine, dass ich mir ein Stück Wohlbefinden kaufen kann. Vielleicht habe ich mich aber auch nur „einlullen“ lassen und nicht wirklich hingeschaut, hingefühlt und schon gar nicht in Ruhe nachgedacht, was ich wirklich brauche – und schwupps, waren schon wieder irgendwelche Teile im Einkaufswagen, die überhaupt nicht dort hin sollten.

Von der privaten Haltung zur gesellschaftlichen Dimension von Achtsamkeit und Minimalismus

Für mich bedeutet Achtsamkeit und Minimalismus vorrangig, mein Leben nicht meinem eigenen Autopilot zu überlassen, aber auch nicht den Heilsversprechen der Werbeindustrie oder sonst wem. Ich möchte mich auch nicht selbst perfektionieren, sondern einfach bewusster leben und entscheiden. Dabei gelange ich dann irgendwann automatisch auch über die rein private Dimension hinaus. Denn, wenn ich weniger konsumiere, hat das immer eine Wirkung – nicht nur auf den Inhalt meines Portemonnaie’s. Ich bin mir sicher, dass die Konsumindustrie schnell reagieren und sich umstellen würde, wenn nicht nur einzelne, sondern viele Menschen nicht mehr so einfach sang- und klanglos kaufen und konsumieren würden. Ich bin mir ebenfalls sicher, die Angebote würden sich über kurz oder lang ändern. Ich halte die Appelle, der Konsum müsse zur wirtschaftlichen Entwicklung gesteigert werden, nicht für eine wirtschaftliche Notwendigkeit, sondern für Phantasielosigkeit beim Entwickeln neuer Wege.

Durch meine Achtsamkeitspraxis ist mir sehr viel deutlicher bewusst geworden, was um mich herum geschieht. Ständige Ablenkungen und Reizüberflutungen beispielsweise. Äußerer Lärm kann inneren Lärm prima übertönen, leider aber auch so etwas wie die eigene „innere Stimme“. Selbst bei einem Sonntagsspaziergang im Wald fällt mir auf, wieviele Menschen von der Natur nur noch wenig mitzubekommen scheinen. Es wird in schicker Funktionskleidung gewandert, gejoggt, gewalkt oder mit dem Mountainbike die Hänge hoch und runter gefahren. Es wird lautstark erzählt. Wie wäre es damit, einfach mal hinzuschauen, wie z.B. das Wechselspiel von Licht und Schatten oder hinzuhören auf die Geräusche des Waldes?  Selbst das Geräusch des Regens kann interessant werden, wenn ich ihm einfach mal bewusst und aufmerksam zuhöre.

Verarmt mitten in materiellen Besitztümern

Immer wieder wird mir bewusst, wie sehr wir als Gesellschaft dabei sind, in mitten unseres ganzen materiellen Besitz und mit all den tausenderlei Ablenkungsmöglichkeiten zu verarmen. Als Sozialpädagogin habe ich in vielen Jahren meiner Berufstätigkeit, schon so viele Situationen erlebt, in denen Menschen bis zum Rand des eigenen Ruins konsumiert haben (und auch darüber hinaus). Das ist keine neue Erscheinung, sondern gab es z.B. in den 80er-Jahren auch schon, wenn auch nicht so extrem wie jetzt. Viele Kinderzimmer habe ich im Laufe der Zeit gesehen. Diese Kinderzimmer quollen über vor Kleidung, Spielzeug und technischen Geräten. Mittendrin die Kinder, die damit völlig überfordert waren und liebend gerne ihren ganzen Krempel gegen die Aufmerksamkeit eines Erwachsenen getauscht hätten. Und nahezu täglich Pizza oder Döner vor dem Fernseher, das lieblos servierte Wurstbrot auf dem Fußboden des Kinderzimmers oder das fast schon berühmte trockene Brötchen im Kinderwagen: Keine Gemeinschaft, kein gemeinsames Essen, kein Tisch decken, kein Erzählen, Begegnen. Wer so aufwächst ist bitterarm. Bitterarm mitten in einer mit Konsumkram vollgestopften Wohnung einer völlig überdrehten Gesellschaft.

Dass das, was wir zu viel haben, denen fehlt, die anderswo in bitterster materieller Armut leben, kommt noch hinzu.  Unsere Konsumberge werden oft unter menschenunwürdigsten Bedingungen produziert. Wie achtsam ist es eigentlich, wenn wir solche Dinge kaufen? Wir schaden mit der oft gnadenlosen Ausbeutung von Resscourcen und Menschen aber nicht nur anderen, sondern letztlich uns selbst. Endloses Wachstum halte ich für eine Illusion und schlichtweg nicht menschenwürdig möglich. Alternativen dazu müssen nicht nur überlegt, sondern vor allem probiert und praktisch erprobt werden.

Jeder kleine Schritt zählt

Selbst dann, wenn jede/r Einzelne nur kleine Schritte der Veränderung geht, zählt das. Unsere Kinder brauchen zudem gerade in der heutigen Situation etwas ganz anderes, als irgendwelche Konsumberge. Sie brauchen uns. Sie brauchen Erwachsene als verantwortlich handelnde Menschen. Kinder benötigen Beziehung, Orientierung, Sicherheit, Zeit, reale Vorbilder.

Jedes Kleidungsstück oder Elektronikgerät, welches wir langfristig nutzen, nach Möglichkeit reparieren statt weg werfen und jede Minute, die wir uns Zeit für Kinder nehmen, statt sie nur mit Kram und schlechtem Essen vollzustopfen: All das zählt, all das ist wichtig. Natürlich nicht als Lösung für alles, aber es ist sind praktische und konkrete Schritte. Diese Schritte mögen manchmal noch ein noch so kleines, zaghaftes Probieren sein, sie sind trotzdem wichtig und wertvoll. Und selbst holprigste Versuche etwas zu verändern, sind immer noch besser, als mitten im ganzen Konsumkrempel den Zustand der Welt zu beklagen und dann die nächste Shoppingtour zu planen.

4 thoughts on “Achtsamkeit und Minimalismus – wie privat und wie gesellschaftlich ist das?

  1. Liebe Gabi, ich finde deinen Artikel ebenfalls sehr gelungen. Erschreckend finde ich auch Kinderzimmer, in denen dann Bett und Schrank und ein Fernseher steht, aber eben kein Spielzeug.
    LG Nanne

  2. Oh, vielen Dank für die schönen Rückmeldungen. Das freut mich natürlich. Der größte Teil dieses Beitrags lag eigentlich schon ca. 2 Wochen hier auf meinem Computer herum. Er entstand mal so aus dem Bauch heraus, als ich krank war. Und gestern sagte mir mein Bauchgefühl, dass ich jetzt der Zeitpunkt ist, wo ich ihn mal veröffentliche.

  3. Hallo Gabi!

    Boah – ich bade gerade in Deinem Beitrag. Wunderschön geschrieben, Du sprichst mir ja so aus dem Herzen!

    Werde ich jetzt gleich einmal auf FB teilen, damit ihn noch mehr Menschen lesen können. Würde ich gut finden!

    lg
    Maria

  4. Ein sehr schön geschriebener Beitrag, der zeigt, wie beide Lebenseinstellungen Hand in Hand gehen.
    Danke schön für diesen zusammenführenden Überblick.

    Liebe Grüße

    Alisha

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