3000 km auf dem Jakobsweg – Mein Brief an Christof Herrmann

Lieber Christof,

ich erinnere mich noch, dass ich als Teenager mächtig stolz war, wenn wir eine 1- oder 1 1/2-wöchige Wanderung mit rund 200km hinter uns gebracht haben. Ich weiß noch, wie anstrengend dies war, aber auch wie wunderschön.

Heute bin ich in der Regel schon mit Tagestouren vollauf zufrieden und ausgelastet. Wenn ich lese, dass du gleich 3000 km auf dem Jakobsweg von Nürnberg nach Santiago de Compostela wandern willst, dann staune ich nicht schlecht und überlege, wie abgedreht denn sowas ist. Rund 120 Tage und 3000 km wandern und alles, was du brauchst, passt in einen 32-Liter-Rucksack…

Aber was heißt hier eigentlich abgedreht? Wandern ist die natürlichste und ursprünglichste Fortbewegungsart überhaupt – dazu sehr minimalistisch, sehr nachhaltig und nebenbei auch noch gesund.

Abgedreht ist ja genau genommen etwas anderes, z.B. sich allmorgendlich durch die Staukarawane zum Arbeitsplatz zu quälen, dann Börsenkurse abrufen, Emails checken, Telefonate führen, in den Sozialen Netzwerken tummeln und sich den ganzen Tag von einem – evt. ungeliebten – Job stressen lassen. Wozu und warum? Um das schicke Auto zu finanzieren mit dem ich im Stau stehe? Um das 30.te T-Shirt, die x-te Flatrate für irgendwas, die große Wohnung, das neuste Handy zu bezahlen und – natürlich – um sich als Belohnung und Ausgleich für den ganzen Stress, im Urlaub endlich in ein Flugzeug setzen und um die Welt jetten zu können? Man will sich ja schließlich zur Erholung mal was gönnen und sich für den ganzen Stress belohnen. Allerdings ist da vielleicht der Jetlag, das verspätete Flugzeug, das vielleicht doch nicht so perfekte Hotel, das ungewohnte Essen und und und …

Wirklich abgedreht bist nicht du, sondern vielleicht wir, die wir uns üblicherweise im Hochgeschwindigkeitsmodus den Alltag mit tausenderlei Dingen vollstopfen. Abgedreht ist, dass wir denken, dass es hierzu definitiv keine Alternative gibt. Abgedreht ist auch, wenn wir meinen, solche Leute wie du, seien vielleicht doch irgendwie „unnormal“, die Ausnahme, überhaupt sei das ja auch nur mal so eine schräge Phase und ob da vielleicht irgendwas nicht so ganz stimmt…

Doch, bei wem stimmt da was nicht??? Lieber Christof, bei dir ist da sicher sehr viel mehr im Lot, als bei den meisten anderen Menschen. Du hättest das wirklich angenehme Gehalt und die Sicherheit einer Arbeit in der IT-Branche ja durchaus behalten können. Statt viel Fahrerei einfach eine Wohnung näher am Arbeitsplatz, idealerweise eine Haushaltshilfe, Wäsche-Service, Essen im Restaurant und dazu noch die ein oder anderen angenehmen Job-Benefits beim Arbeitgeber aushandeln. Aber du hast schon vor rd. 10 Jahren begriffen, dass Leben und Lebendigkeit etwas anderes ist und bist deshalb ins kalte Wasser gesprungen, bist Risiken eingegangen, hast auf Luxus und Komfort, sowie die angenehmen Sicherheiten verzichtet. Du hast neue Wege gesucht, abseits von dem, was wir heute als „normal“ bezeichnen. In Wirklichkeit ist das, was wir so gerne für „normal“, halten, letztlich doch nichts anderes, als der Irrsinn einer überdrehten Gesellschaft, die im Hochgeschwindigkeitsmodus den Kontakt zu sich selbst verloren hat.

Wenn ich sehe, was du jetzt tust, ist das vielleicht das „Normalste“ überhaupt: Sich ein Ziel vornehmen – sich mit möglichst wenig Dingen belasten – auf die eigenen Kräfte verlassen – Ausdauer und Durchhaltevermögen zeigen – und ein Ziel erreichen.
Auf deinen vielen Touren hast du dies bereits mehrfach bewiesen. Du hast uns anhand von vielen Fotos und Berichten an deinen Wanderungen, Erlebnissen und Schönheiten der Natur Anteil nehmen lassen. Viele Menschen sind dank deiner Wandertouren und Wanderführer in Bewegung, ans Ziel gekommen und haben das entdeckt, was nunmal nicht in Hochgeschwindigkeit eben so im Kaufhaus zu ergattern ist: Lebensqualität!

Für deine Tour wünsche ich dir alles Gute und ich freue mich schon, von dir, deinen Erlebnissen und Begegnungen zu hören.

Liebe Grüße,
Gabi

6 thoughts on “3000 km auf dem Jakobsweg – Mein Brief an Christof Herrmann

  1. Hallo Gabi!

    Was für ein schöner Brief und wie viele Wahrheiten Du darin verpackt hast! Ich werde die Reise von Christof auf jeden Fall auch sehr gespannt verfolgen. Hatte ehrlich gesagt selbst überlegt in der Zeit am Jakobsweg unterwegs zu sein. Aber nachdem ich nicht einmal ansatzweise so geübt bin wie er, wird das vermutlich eher nichts werden. So weiß ich dieses Jahr noch immer nicht, was ich in meinem Urlaub machen werde.

    Ich hoffe, Du hast Deinen Urlaub genießen können!

    lg
    Maria

  2. Liebe Gabi,

    ich bin nicht oft sprachlos, aber nun musste ich mich doch erst mal sammeln.

    Danke für diesen herzlichen Brief an mich 🙂

    Nun kann nichts mehr schief gehen auf meinem langen Weg nach Santiago de Compostela!

    Einfach bewusste Grüße

    Christof

    1. Hallo Frau DingDong, danke ebf. Es freut mich, dass dir mein Brief gefallen hat. Irgendwie scheint mein Urlaubs-Nichts-Raum produktiv zu machen, mir fallen ständig irgendwelche Texte ein…

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