Minimalismus mit 54 Jahren. Was soll das?

Minimalismus mit 54 Jahren – warum?

Diese Fragestelle ich mir oft selbst: Minimalismus mit 54 Jahren? Ist das nicht was für Jüngere? Was hindert mich eigentlich daran, mehr Zeit in irgendwelchen Kaufhäusern oder Internetshops zu verbringen und mir die Wohnung mit allen möglichen Dingen zuzustellen?

 

Zum Begriff „Minimalismus“ und was er für mich bedeutet:

Für mich bedeutet Minimalismus: konsumbewusster Leben, konsumreduzierter Leben, achtsamer mit mir und den Dingen um mich herum umgehen. Es geht mir nicht darum, nur die berühmten 100 Teile zu besitzen, die einen Minimalisten angeblich ausmachen. Für mich geht es um die Frage, was ich wirklich benötige, was zu mir passt. Ich will mir mein Leben und meine Zeit nicht mit unnötigem Zeug vollstopfen. Achtsamkeit gehört in diesem Zusammenhang unbedingt dazu, weil ich dadurch sehr viel genauer und differenzierter spüre, was nötig ist und was nicht.

 

Minimalismus als Modewelle? Lifestyle?

Das mag bei den ein oder anderen Leuten so sein. Genau der Punkt interessiert mich aber überhaupt nicht. Ich muss auch nicht jünger erscheinen, als ich bin. Weder muss ich mir, noch anderen irgend etwas beweisen. Ich muss zum Glück auch überhaupt nicht „in sein“. Wozu auch? „In sein“ – das beinhaltet auch den Wunsch nach Zugehörigkeit und Anerkennung. Nun, dieses Bedürfnis kann ich mir auch anders erfüllen. Ich weiß, was ich mir im Laufe des Lebens an Fähigkeiten angeeignet habe, welche Hürden und Klippen zu überwinden waren. Ich weiß, was ich kann und was auch nicht.  Zugehörigkeit, also das Bedürfnis nach zwischenmenschlichen Beziehungen und Begegnungen, ist für mich unabhängig davon, ob ich viel oder wenig Dinge habe. Wichtiger ist es, ob es darüber hinaus auch noch Themen gibt, über die wir uns austauschen können.

 

Keine Lust auf Konsumstress

Ich habe einfach keine Lust, mir diesen Konsum-Stress anzutun. Vieles ist im Laufe der letzten Jahre und Jahrzehnte sehr extrem geworden: Es gibt eine unendliche Auswahl an Produkten und ständig wird etwas Neues auf den Markt geworfen. Aber die Qualität lässt seit einiger Zeit zu Wünschen übrig. Viele Firmen beteuern zwar immer noch, dass es keine geplante Obsoleszenz gibt. Aber sorry, liebe Firmen: Ich glaube es euch nicht! Kaum gekauft und die Gewährleistung ist abgelaufen, geht’s kaputt. Ich bin nicht bereit, „Schrott“ zu kaufen, damit die Umwelt zu schädigen und den Reichtum einiger nur weniger Menschen zu mehren, während viele andere Menschen kaum wissen, was sie am nächsten Tag essen sollen.

Auch muss ich mich – gerade wegen der schlechter werdenden Qualität – bei einem Neukauf erst durch ewige Testberichte wühlen, stundenlang in Internetshops recherchieren oder durch die Stadt rennen. Das ist für mich kein Freizeitspaß, sondern Arbeit, nervtötende Arbeit. Den Spaß am neuen Ding, gleicht dies bei mir definitiv nicht aus. Freizeit heißt deshalb Freizeit, weil ich dann FREI habe und mich nicht stundenlang mit Einkauferei beschäftigen muss.

 

Reduzierung von Arbeitsbelastung

Wenn ich weniger an zu kaufenden Dingen benötige, dann muss ich auch weniger dafür Arbeiten. Ich bin seit inzwischen 33 Jahren in der sozialen Arbeit tätig, die Arbeitsbelastung ist deutlich stärker geworden und ich selbst werde nun mal auch nicht jünger. Ohne Arbeitszeitreduzierung wäre ich längst „platt“ und selbst ein „Sozialfall.“ Als Sozialpädagogin habe ich auch mit einem Vollzeitgehalt längst nicht so viel Geld, wie die meisten anderen Leute mit Hochschulabschluss. Das ist ungerecht, ich habe aber nicht vor, mich den Rest des Lebens darüber zu ärgern. Ich hätte ja eine andere berufliche Richtung einschlagen können – wollte ich aber nicht. Ich kann problemlos am Morgen in den Spiegel schauen und weiß, dass das, was ich arbeite, sinnvoll ist. Als in Teilzeit arbeitende Sozialpädagogin ist es zudem schlichtweg auch finanziell erforderlich, dass ich mir die Frage, nach notwendig und nicht notwendig stelle.

 

Was passt wirklich zu mir?

Eine für mich wesentliche Frage. Minimalismus als Lebensstil, also konsumbewusster und -reduzierter zu Leben, ist für mich der pure Luxus. Ich kann es mir z.B. überhaupt leisten auf Dinge zu verzichten (wer kann das schon…!).

Und – noch wichtiger – sehr viel mehr ist es eine Lebensweise, mit der ich mich einfach sehr viel besser fühle:

  • In einer schnelllebigen Welt, mit Dauerbeschallung und Dauerberieselung, überall Werbung, Neuheiten → erholsame visuelle und akustische Oasen finden und damit Reizüberflutungen reduzieren.
  • Ich mag es nicht, mich morgens durch meinen Kleiderschrank zu wühlen und ich möchte mich zudem in meiner Kleidung wirklich wohlfühlen. Diese endlose Menge an Kleidung, die manche Leute heute haben, brauche ich nicht, hatte ich nie. Warum soll ich also plötzlich damit anfangen, ebenfalls so viel Zeugs kaufen? Nur, weil andere das auch so machen? Nein! Will ich nicht, brauche ich nicht. Ich leiste mir da, wo es möglich ist, dann lieber weniger, aber hochwertigere und in Deutschland oder Europa produzierte Kleidung.
  • Um mich zu erholen, brauche ich kein Flugzeugtrips, keine überfüllten Sandstrände und sündhaft teuren Hotels. Ich möchte nicht stundenlang fahren, bis ich am Urlaubsort bin. Ich bin gerne immer mal wieder in der Natur unterwegs oder liebe es, mal einfach in den Tag hinein zu leben, zu dösen, zu lesen, zu schreiben oder einfach mal nix zu tun.
  • Viele Möbel um mich herum zu haben, erdrückt mich. Ich mag z.B. einfach keine normalen Kleiderschränke. Noch nie. Ich habe früher die Türen von Kleiderschränken angemalt oder abmontiert, mir aus Regalen einen begehbaren Kleiderschrank gebastelt, usw. usw. Ich kann nicht einmal sagen warum. Es ist einfach so. Meine Kleidung hängt an der Kleiderstange eines einfachen Kleiderwagens, der Rest befindet sich in einem Holzschränkchen. Nach monatelangen Durchschlafproblemen und morgendlichen massiven Muskelverspannungen, habe ich kürzlich entdeckt, dass ich sehr viel besser auf einer Shiatsu-Matte auf dem Boden schlafe. Das ist nicht für jede/n eine Lösung, aber für MICH ist es super.

 

Minimalismus mit 54 Jahren heißt für mich letztlich, dass ich selbst entscheiden möchte, was für mich gut ist – und mir dies nicht von Marketingstrategen und der Werbeindustrie vorschreiben lassen. Die Resscourcen unseres Planeten sind zude begrenzt. Und so zu tun, als gäbe es ewiges Wachstum, ist einfach Unsinn, Blindheit oder vielleicht auch einfach nur unersättliche Gier. Es ist längst überfällig, sich über Alternativen Gedanken zu machen und da ist es einfach mal egal, wie alt ich bin.

 

11 thoughts on “Minimalismus mit 54 Jahren. Was soll das?

  1. Gabi Raeggel
    bin 4 Jahre älter als Sie, und mein Text könnte inhaltlich ähnlich aussehen, sogar der Beruf passt, nur dass ich jetzt in Frührente bin. Ich habe mir zu lange zu viel zugemutet, habe mir für meine Klienten „den Hintern aufgerissen“ und mich dadurch bei anderen Kolleginnen und Vorgesetzten unbeliebt gemacht. Letztlich wurde ich aus meinem Beruf raus geschasst. Ich konnte mich nicht mal von Klienten verabschieden, mit denen ich lange zu tun gehabt hatte. Nun sitze ich in einer Gegend fest, in die ich berufsbedingt gezogen bin, in der ich mich von Anfang an nicht wohl gefühlt habe, nicht Zuhause, in der ich aus welchen Gründen auch immer keinen Zugang zu den Leuten meiner Altersgruppe gefunden habe. Zumindest was Kleidung betrifft, hatte ich „meinen“ Minimalismus ein wenig aus den Augen verloren, denke, dass ich versucht habe, etwas zu kompensieren, was ich hier nicht mehr hatte und auch nach wie vor nicht habe. Jetzt bin ich aber seit 3 Jahren wieder dabei, all meine Sachen erneut zu minimieren. Was ich noch verkaufen kann, hilft mir, Geld für einen Umzug zu sparen. Jedes Teil, das geht und nicht ersetzt wird, ist ein Teil weniger, was bei einem Umzug teuer bezahlt mitgenommen werden muss. Denn ich muss ein Umzugsunternehmen beauftragen, da ich mittlerweile seit 6 Jahren keine Freunde, nicht mal mehr Bekannte habe, die mir helfen könnten. Ich habe hier in dieser für mich „falschen“ Gegend alles verloren, erst meinen Job und meine Gesundheit, dann die letzte Person, von der ich dachte, sie sei meine Freundin, und zu guter letzt auch mein geliebtes Auto (kein neues, kein luxuriöses, aber eines, das mir die Freiheit gab, mich von hier wegzubewegen, lebe jetzt auf dem Land mit sehr schlechten Verkehrsanbindungen). Nun ist mein einziges Ziel, wieder Ordnung zu schaffen, den Hausstand insgesamt so zu reduzieren, dass ein Umzug einfacher möglich ist. Ich will nur noch weg aus dieser Gegend, in der alles aus dem Ruder gelaufen ist.
    Mit 60 vielleicht wieder dort wohnen, wo ich atmen kann, wo es Menschen gibt, die nicht nach Besitz einen Menschen beurteilen …..

    Ja, es ist genauso: Ich kann im übertragenden Sinne hier nicht atmen und habe mittlerweile auch physisch Atemprobleme.

  2. Mein Mann und ich denken auch so. Wir sind seit Jahren schon dabei, zu reduzieren, alles wohl überlegt und nichts überstürzt. Manches braucht auch seine Zeit (so ist das bei mir), um sich trennen zu können. Es ist aber tatsächlich so: je weniger Zeugs, je weniger Schränke, je weniger Zeitaufwand für Materielles und desto mehr Zeit für das, was wirklich Freude macht.
    Liebe Grüße, Ingrid

  3. Danke, dass du deine wunderbare Einstellung so offen legst. Ich selber möchte schon lange so leben, stelle aber immer wieder mit Entsetzen fest, wie sich Dinge um mich zu Bergen türmen, die ich überhaupt nicht will. Den ersten Schritt habe ich allerdings schon getan: ich arbeite weniger und lerne wieder, wie in jungen Jahren, mit wenig Geld mehr zu leben. Es tut gut, zu wissen, dass man die meisten Dinge gar nicht braucht, nachdem man sie sich eh nicht mehr leisten kann.
    Ich danke dir und werde deinen Block gerne teilen, damit dein Handeln bei vielen Menschen zu Denkanstößen führt

  4. Eigentlich ist das mit dem Kleiderschrank und den Türen ja auch viel logischer – insb., weil man das Zeugs dann nicht sieht. Das ist bei mir dann einfach komplett unlogisch 😉

  5. Ich frag mich ja immer, ob es wirklich Leute gibt, die Minimalismus, Konsumreduzierung und ähnliches nur betreiben, weil es eine Mode ist. Ich kann mir das eigentlich gar nicht vorstellen, dass nicht ein bisschen mehr dahinter steckt und finde es schön, wenn immer mehr Menschen ihr Kaufverhalten mal kritisch überdenken. Nur die anderen, die von außen draufschauen, stempeln es dann gleich als neue „Mode“ ab.
    Viele Grüße,
    Marlene

    1. Ich glaube, es war Gerald Hüther, der sinngemäß sagte:
      Erst werden sie für Spinner gehalten, dann gehören sie Avantgarde und irgendwann sind sie dann Vorbilder.

    1. Hallo Aurelia, vielen Dank. Es freut mich natürlich, wenn andere Menschen ähnlich empfinden. Es geht ja nicht darum, irgendwie exotisch zu sein, einem Trend hinterher zu laufen oder sonstwas. Aus dem Alter bin ich echt raus 😉

Comments are closed.